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Besuch von Bundesfamilienministerin Paus: Kinderschutzbund Lehrte fordert mehr Hilfe für verhaltensauffällige Kinder

Klimawandel, Ukraine-Krieg, Corona-Folgen: All das führt zu einer starken psychischen Belastung bei Kindern und Jugendlichen. Über diese und andere Probleme informierte sich Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) beim Kinderschutzbund Lehrte.

Katja Eggers

08.10.2022, 12:00 Uhr Lehrte. Die Schulen sind zwar schon lange wieder geöffnet, aber Kinder und Jugendliche leiden immer noch unter den Corona-Folgen. Auch die Sorgen wegen des Ukraine-Kriegs und über den Klimawandel führen zu psychischen Belastungen – das berichtet der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) in Lehrte. Bei einem Besuch von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne)

haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschildert, vor welchen Herausforderungen sie stehen und mit welchen Problemen sie sonst noch zu kämpfen haben.

Zusammen mit dem Lehrter Grünen-Ratsherrn und Landtagskandidaten Christian Gailus sowie Grünen-Vertreterinnen und -Vertretern aus Lehrte, Burgdorf und Uetze besuchte Paus das „SchülerInnenbüro“ des Ortsverbands an der Südstraße. Dessen Vorsitzende Christiane Nustede und ihre Stellvertreterin Zehra Aslan-Kelloglu zeichneten ein erschreckendes Bild: Auch in das Büro kommen zunehmend Kinder und Jugendliche mit krisenbedingten psychischen oder emotionalen Problemen. „Viele sind verhaltensauffällig, aggressiv oder haben Essstörungen“, berichtete Nustede.

Zehnjährige können nicht richtig lesen

Die Kinder hätten in der Corona-Zeit sehr zurückstecken müssen und durch Unterrichtsausfälle und Homeoffice deutliche Bildungsdefizite. „Bei der Hausaufgabenhilfe haben wir mitunter Zehn- bis Elfjährige, die nicht richtig lesen können und stottern“, erklärte Aslan-Kelloglu. Für Kinder in bulimischen oder psychischen Krisen einen Termin beim Psychologen zu bekommen, sei aufgrund der langen Wartelisten jedoch schwierig. Nustede kritisierte in diesem Zusammenhang, dass es in Lehrte nur eine einzige Kinderarztpraxis gebe. „In Sachen Versorgungsplätzen müssen für Kinder Mindeststandards vorgehalten werden“, forderte die Vorsitzende des Lehrter Kinderschutzbundes.

Nustede fordert eine bessere Vernetzung

Die Bundesfamilienministerin erklärte, dass dies vermutlich eher eine langfristige Lösung seien könne. Sie erkundigte sich nach Möglichkeiten, die auch kurzfristig umzusetzen sind. Nustede forderte hier eine bessere Vernetzung und Kooperation von Therapeuten, Schulsozialarbeitern und Jugendämtern. Denkbar sind für sie zum Beispiel wöchentliche „Kinder-Sozial-Konferenzen“ an Schulen. „Es braucht einen Rahmen, in dem wir das weitergeben können, was wir hier hören“, betonte Nustede. Denn gerade im „SchülerInnenbüro“ würden sich Kinder den Mitarbeiterinnen mit ihren Problemen öffnen.

Lesen Sie auch: Wegen Corona: Mehr Menschen in Lehrte und Sehnde leiden unter häuslicher Gewalt Die kleine Anlaufstelle gegenüber dem Schulzentrum wird täglich von 30 Kindern und Jugendlichen der ersten bis zehnten Klassen aufgesucht. Viele

kommen schon vormittags, um sich dort mit einem gesunden Frühstück einzudecken. „Die Kinder sind hungrig, weil sie zu Hause kein Frühstück und Pausenbrot bekommen“, beklagte Nustede. Neben Kindern aus sozial schwachen Familien kommen zunehmend auch Flüchtlingskinder aus der Ukraine. Die Lebensmittelspenden der Tafel sind jedoch zurückgegangen. „Früher wurden wir zweimal in der Woche versorgt, jetzt ist es nur noch einmal“, berichtete Nustede. Fehlende Lebensmittel kauft der DKSB nun selber nach und finanziert diese aus Spenden.

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Paus macht sich für Kinderrechte im Grundgesetz stark

Für die Bundesfamilienministerin ist Lehrte jedoch kein Einzelfall. „Diese Probleme höre ich derzeit bundesweit“, erklärte Paus. Die Ministerin fühlte sich nach dem Gespräch darin bestärkt, Kindern und Jugendlichen künftig noch mehr Gehör zu verschaffen. „Viele leiden immer noch unter den Corona-Folgen, und jetzt ist es an der Zeit, ihnen etwas zurückzugeben“, betonte Paus. Sie erklärte, dass sie sich für die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz stark mache und zudem ein Bündnis für Jugend schmieden wolle. Und dafür möchte sie künftig auch auf den Kinderschutzbund Lehrte zurückkommen.

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Kinderrechte in Zeiten der Pandemie – Gedanken zum Weltkindertag 2021

 

Am 20.09.2021 ist Weltkindertag. Dieser von den Vereinten Nationen erstmalig 1954 begangene Tag soll auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen aufmerksam machen und für deren Umsetzung werben.

 

Mit der Anerkennung der UN Kinderrechtskonvention im Jahre 1992 hat sich auch die Bundesrepublik zur Umsetzung der Rechte verpflichtet. Der Kürze halber seien hier nur einige, dafür aber zentrale Rechte gelistet:

  • Gleichheit
  • Bildung
  • Gesundheit
  • Schutz vor Gewalt
  • Spiel und Freizeit
  • Teilhabe / freie Meinungsäußerung
  • ……

Der Kinderschutzbund hat in den vergangenen eineinhalb Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass die vorgenannten Rechte im Zuge der Pandemie nicht auf der Strecke bleiben dürfen. Sie hätten sogar Vorrang vor den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie.

Doch wie sah und sieht es in der Realität aus?

Die eingangs genannten Kinder- und Jugendrechte benennen exakt die Problemfelder und Benachteiligungen, unter denen die Jüngsten unserer Gesellschaft seit Beginn der Pandemie zu leiden haben. Sie umreißen auch klar die Themenfelder, in denen die Politik gar nicht oder nur unzureichend tätig geworden ist, um die Probleme, die inzwischen von ganzen Heerscharen an Kinderärzten/-innen, Psychologen/-innen, Pädagogen/-innen und Sozialarbeiter/-innen benannt wurden, zu bearbeiten.

Schauen wir einmal genau hin:

Gleichheit:

Fehlender Präsenzunterricht, das Debakel um das Homeschooling, ungleiche Wohnverhältnisse u.a. verstärken die ohnehin schon bestehende Ungleichheit untereinander bei Kindern und Jugendlichen aber auch im Vergleich zu erwachsenen Personen. Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft hatten jederzeit im Sinne des Finanz- und Zeitrahmens Vorrang vor den Belangen von Familien, Kindern und Jugendlichen. Hier hätte man sich zwingend mehr Gleichbehandlung gewünscht. Das trifft auch zu, wenn man sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen und deren Behandlung durch die Politik anschaut.

Noch am 4. September 2021 waren weitgehend Clubs, Diskotheken, Bars etc. ohne Beschränkungen geöffnet. Erstklässler hingegen mussten ihre Einschulung mit eingeschränkter Personenzahl und Masken feiern zudem auch etappenweise in Kleingruppen. Wo ist hier die Priorisierung?

Bildung:

Wegfall des Präsenzunterrichts, Homeschooling, der Ausfall von Klassenfahrten, Wegfall von Praktika und Ganztag, kein Wahlpflichtunterricht, kein Förderunterricht: das waren eine Vielzahl von Maßnahmen, die Kindern und Jugendlichen den Zugang zu und den Bestand der Bildung verwehrt haben. Hinzu kamen und kommen die allseits bekannten Probleme bei der Online-Beschulung bei schlechter Ausstattung der Haushalte und Schulen. Fehlende Kompetenzen bei Lehrern und Schülern im Umgang mit digitalisierten Lernangeboten kommen erschwerend hinzu.

Allgemein wird der Sorge Ausdruck verliehen, dass Bildungsziele nicht erreicht werden können. Maßnahmen zur Verbesserung der Lage, wie z.B. der Einbau von Luftfiltern, um mehr Präsenzzeiten zu ermöglichen blieben Fehlanzeige oder Stückwerk!

Besonders Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien sind die Leidtragenden in der Pandemie. Mangels vielfältiger Sprachförderung und Sprachangebote werden die Kinder auf ihr häusliches Umfeld zurückgeworfen, wo ausschließlich muttersprachliche Kommunikation stattfindet. Bei diesen Kindern sind die bereits erworbenen Kompetenzen wieder als rückläufig zu beobachten. Die Lernrückstände vergrößern sich und müssen aufgeholt werden.

Gesundheit:

Kindern und Jugendlichen wird ein deutlich geringeres Risiko für einen schweren Covid 19 Verlauf bescheinigt. Zudem sind Kinder häufig zwar positiv getestet, jedoch dabei nicht symptomatisch erkrankt. Ein für Kinder geeigneter Impfstoff ist noch nicht in Sicht. Die gesundheitlichen Probleme, die sich bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie hingegen zeigen, sind oft psychischer Natur, die durch soziale Isolation, die Sorge um enge Angehörige, Zukunftsängste, Stress mit der familiären Wohnsituation, fehlende Kontakte zur Peergroup verursacht werden. Freundschaften können nicht aktiv gelebt werden, Kontakte teilweise nur online oder telefonisch stattfinden. Freizeitangebote werden ausnahmslos abgesagt. Hobbys können nicht mehr wahrgenommen werden. Gesundheitliche Probleme, die sich aus der veränderten Ernährung ergeben, werden erst zukünftig sichtbar werden.

Schutz vor Gewalt:

Die Fälle häuslicher Gewalt sind im Zuge der Pandemie in die Höhe geschnellt. Familien und Eltern im Stress, in Sorge um Angehörige, Einkommenseinbußen, Existenzängste, zeitgleich Homeoffice und Homeschooling, die Ursachen sind vielfältig, Minderung wurde seitens der Politik nicht herbeigeführt.  Kitas und Schulen als Orte der sozialen Kontrolle waren über sehr lange Zeiträume geschlossen. Jugendamtsmitarbeiter/innen arbeiteten aus dem Homeoffice heraus ohne realen Kontakt zu den Institutionen und Familien. Hilfsangebote waren nur sehr eingeschränkt verfügbar. Es gilt hier, umfangreiche Hilfsangebote für Familien zu entwickeln.

Spiel und Freizeit:

Keine andere Nachkriegsgeneration hat solche massiven Eingriffe in ihr Freizeit- und Spielverhalten erdulden müssen. Spielen auf dem Spielplatz? Sport/Musik im Verein? Freunde treffen? Geburtstag feiern? Familienfeste? Fehlanzeige. Die fehlenden Sozialkontakte wirken sich negativ auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen aus. Zunehmende Konflikte in den Schulen nach Rückkehr in den Präsenzunterricht sind zu beobachten.

Teilhabe:

Freie Meinungsäußerung und Teilhabe sind grundlegende Kinder- und Jugendrechte und unverzichtbar in einer demokratisch verfassten Gesellschaft.

Wann und an welcher Stelle hat man Kinder und Jugendliche in Entscheidungen die Pandemie betreffend eingebunden? (z.B. bei der Maskenpflicht?)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Pandemie sicherlich in einer bisher nicht bekannten Form Gesellschaft und Politik auf die Probe gestellt hat. Vieles war neu und musste im Verlauf der Pandemie gelernt und entwickelt werden. Deutlich traten auch die Versäumnisse der Vergangenheit zutage. Es zeigte sich, dass viele Beiträge der Politik zu Kinder- und Jugendthemen in der Vergangenheit -wie so oft- nichts Anderes als Schönrederei waren. Hier muss dringend Abhilfe geschafft werden.  Es ist zu befürchten, dass man sich in den nächsten Jahresabschnitt retten möchte. Zurzeit steht der Parole „nächstes Frühjahr sind wir durch“ im Raum. Lassen wir uns nicht in Sicherheit wiegen. Und die psychischen Probleme zeigen sich über das Frühjahr hinaus, auch wenn die Maßnahmen bis dahin gelockert oder aufgehoben wurden.  Bleiben wir wachsam und fordern die notwendigen Maßnahmen ein und unterstützen die Verantwortlichen dabei.  Das sind wir unseren Kindern und Jugendlichen schuldig. Fangen wir an mit ihnen und nicht über sie zu reden und sie zu hören.

 

 

 

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Weihnachts-Heft 2019 KW 51